Die Autorin Hertha J. Kiesewetter |
Am 24. August dieses Jahres fand das vierte Treffen der Sudetendeutschen aus dem Norddeutschen Raum im Trappenkamper Bürgerhaus statt. Hier berichtete Frau Hertha Julia Kiesewetter im Rahmen eines Vortrags über ihre Jugendjahre in Trappenkamp. Ihren Vortrag möchten wir im Folgenden einer größeren Leserschaft näher bringen.
Meine Kinder- und Jugendzeit in Trappenkamp
Liebe Trappenkamperinnen und Trappenkamper, liebe Gäste,
als der Landesobmann der Sudetendeutschen Landsmannschaft, Herr Stelzig, mich anrief und fragte, ob ich einen Beitrag zum Thema Trappenkamp vortragen könnte, da zögerte ich zunächst. Denn meine Aufzeichnungen waren in erster Linie für meine Familie und die Nachkommen bestimmt. Dann aber sagte ich zu, weil Trappenkamp für mich eine zweite Heimat geworden war und ich meine Kinder- und Jugendzeit hier verbracht habe.
Ich bin in Gablonz an der Neiße geboren, das heute Jablonec nad Nissu heißt und in Tschechien liegt. Vor dem ersten Weltkrieg gehörte diese gesamte Region zum Kaiserreich Österreich-Ungarn. Danach entstand 1918 die Tschechoslowakei, die nun 3 Millionen Deutsche, "Sudetendeutsche" genannt, in ihren Grenzen hatte. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden diese Deutschen von den Tschechen vertrieben oder ausgesiedelt. Das traf auch meine Familie.
Trappenkamper Kinder im Winter 1953, die heute
über 70 Jahre alt sein müssten.
Wer sich wiedererkennt, erhält das Originalfoto zugesandt (Tel. 01738603984).
Im Sommer 1946 wurden meine Mutter, meine zwei jüngeren Schwestern und ich mit einem Viehwaggon von Gablonz abtransportiert. Wir kamen über die Grenze nach Köthen in ein Lager unter russischer Bewachung und nach vier Wochen in die Stadt Quedlinburg. Beide Städte liegen in Sachsen-Anhalt, damals die sogenannte "Ostzone", die spätere DDR. Dort lebten wir in einer alten Kaserne und hatten nur einen Raum für uns.
Als dann nach einem halben Jahr Alfred Haupt aus dem Westen, der britischen Zone, nach Quedlinburg kam, um Gablonzer Fachkräfte für den Wiederaufbau der Glas- und Schmuck-Industrie in Trappenkamp anzuwerben, da hatten wir großes Glück. Denn mein Vater, Julius Kiesewetter, der nach dem Ende des zweiten Weltkrieges nicht in seine Heimatstadt Gablonz zurückkehren durfte, weil er sonst von den Tschechen eingesperrt worden wäre, war in Lübeck geblieben.
Er war selbständiger Stahlgraveur-Meister, hatte seit 1946 eine Geschäftsbeziehung zu Josef Holey nach Trappenkamp aufgenommen und stellte für ihn die ersten Stahlgravuren für dessen Glasproduktion her. So auch u. a. eine "Rosette" für den Lüsterbehang. Daher habe ich dem Trappenkamper Museumsbunker eine Originalgravur geschenkt, die dort heute in einer Vitrine zu sehen ist.
Damals im Januar 1947 kamen wir also mit anderen Familien zusammen mit einem genehmigten Transport seitens der Alliierten vom Osten in den Westen. Wir passierten auch das bekannte Durchgangslager "Friedland" in Niedersachsen. Die letzte Etappe dieser Reise hatten wir von Bad Segeberg bis Trappenkamp mit einem LKW zurückgelegt.
Einlass für die ersten Vertriebenen gab
es nur durch die britisch besetzte Nordwache, im Foto noch in der Hand der deutschen
Wehrmacht
Plötzlich standen wir vor einem großen Eisentor, daneben ein kleines Häuschen und ein Flak-Turm. Ein englischer Soldat kam aus dem Häuschen und unser Fahrer übergab ihm einige Papiere. Danach wurde das Tor geöffnet und der LKW durfte passieren. Es war das Nordtor, der Haupteingang zu Trappenkamp, und die Straße, die uns bis zum Verwaltungsgebäude führte, heißt heute "Hermannstädter Straße". Wir trafen genau am 27. Januar 1947 ein, wie meine Mutter später erzählte.
Der Ort lag mitten in einem verschneiten Wald und erschien mir mit meinen Kinderaugen wie ein Zauberwald. Die Realität war mir noch nicht bewusst, denn ich war erst sieben Jahre alt. Trappenkamp war damals noch ein Lager, eingezäunt mit einem hohen Stacheldrahtzaun und unter englischer Militärbewachung.
Die Stümpfe der gerodeten Bäume sind
im Vordergrund noch zu erkennen
Wir wurden von Bruno Seidel empfangen, der hier die Organisation für die Neuankömmlinge leitete. Durch ihn bekamen wir eine Unterkunft in der Baracke 2 zugewiesen. Zunächst mit drei weiteren Familien in einem Raum. Später dann hatten wir zwei Räume für uns.
Jetzt möchte ich über Trappenkamp im Detail berichten und habe daher die entsprechenden Kapitel aufgeteilt.
1. Der Anfang und die ersten Jahre
2. Das Marine-Sperrwaffen-Arsenal
3. Demontage und Aufbau
4. Veranstaltungen
5. Bornhöved
6. Schule
7. Kirche
DER ANFANG UND DIE ERSTEN JAHRE
Wir lebten nun also in der Baracke 2. Die hygienischen, beziehungsweise die sanitären Zustände waren sehr einfach und wären für heutige Verhältnisse unzumutbar. Das Wasser musste von einem zehn Meter entfernten Hydranten hereingeholt werden und eine Toilette, ein sogenanntes "Plumpsklo", stand etwas hinten, neben der Baracke. Gott sei Dank, für die jüngeren Schwestern hatten wir daher Nachttöpfe. Baden konnten wir nur in der mitgebrachten Zink-Badewanne. Das Wasser dafür wurde vorher in einem Waschtopf auf einem kleinen Ofen, einer sog. "Hexe", erhitzt.
Dem Organisator Bruno Seidel, der uns bei unserer Ankunft empfangen hatte, war eine Idee gekommen: Man könnte doch die Duschen und Bäder, die im Wirtschaftsgebäude vorhanden waren, für alle nutzen, die sonst keine Möglichkeit besaßen zu baden. So kam es also, dass wir einmal in der Woche die Gelegenheit hatten, in einer richtigen Badewanne zu baden.
Zunächst wurden wir von den Engländern versorgt. Angefangen von warmen Mahlzeiten bis zur medizinischen Betreuung. Eines Tages fuhren wir sogar mit einem englischen Militärlastwagen nach Segeberg zum Röntgen.
Die Arsenal-Holzbaracke 2, die die erste Unterkunft
für Mutter Kiesewetter
mit ihren drei kleinen Töchtern Hertha, Maja und Isolde wurde
In den nächsten Wochen gab es viel zu entdecken, sowohl für die Erwachsenen als auch für uns Kinder. Wie ich bereits sagte, war Trappenkamp ein Lager, umzäunt mit einem 2 m hohen Stacheldrahtzaun und bewacht von englischen Soldaten. Am Haupttor, der ehemaligen Nordwache, standen ein kleines Häuschen und ein Wachturm. Man brauchte einen Passierschein, um das Lager verlassen zu dürfen.
Wir Kinder erforschten die nächste Umgebung. Wir beobachteten, dass kleine Lokomotiven mit Anhängern in den Tannenwald hinein fuhren, der ganz in der Nähe begann. Es war eine richtige Schmalspurbahn. Das begeisterte uns natürlich sehr. Wir sahen zu, wenn sie mit Geräten und schweren Kisten zurückkam. Diese wurden in einen Güterwaggon umgeladen.
Einmal durfte ich mit einem anderen Kind vorn beim Lokführer
mitfahren. Wir fuhren in den Wald hinein und kamen an vielen grauen, flachen
Gebäuden vorbei, die keine Fenster besaßen. Auf der Vorderseite waren
zwei Eisentüren und eine Laderampe. Ein oder zwei Mal hielten wir an. Der
Lokführer stieg aus, ging auf eine Tür zu, öffnete sie und kam
anschließend mit zwei anderen Männern wieder heraus, die eine große
Eisenkiste trugen. Sie hievten sie auf eine der Loren und verschwanden wieder.
Das wiederholte sich so lange, bis alle Loren beladen waren. Anschließend
ging die Fahrt weiter.
Wir fuhren sogar bis zur Südwache, einem kleinen Häuschen, wo Franz
Hoffmann und seine Frau wohnten. Da ich die Beiden vom Vertriebenen-Transport
aus Quedlinburg kannte, winkte ich ihnen zu, als sie vor die Tür traten.
Nachdem wir mit dem vollgeladenen Zug zum Hauptplatz, der schräg gegenüber
vom Verwaltungsgebäude lag, zurückgekehrt waren, lief ich nach Hause.
Freudestrahlend erzählte ich meiner Mutter, was ich erlebt hatte. Sie war
gar nicht so begeistert davon und verbot mir strikt, so eine Fahrt noch einmal
mitzumachen. Dann erzählte sie mir, was sie inzwischen erfahren hatte und
ich begriff, die grauen Häuser, die ich im Wald gesehen hatte, waren oberirdische
Beton-Bunker, in denen während des Krieges Bomben und Minen gelagert wurden.
Da kommt sie die Lok der Schmalspurbahn
bricht durch den Schnee! Hieß sie Emma...?
DAS MARINE-SPERRWAFFEN-ARSENAL
Trappenkamp war ein Sperrwaffen-Arsenal für die deutsche
Kriegsmarine in Kiel, das ab 1935 angelegt worden war. Die Bunker und Arbeitshäuser
lagen im Wald versteckt und das vordere Gebiet, auf dem wir nun wohnten, war
als großer Gutshof getarnt.
Alles, was zu einem Gut gehört, war vorhanden. Erstens das Verwaltungsgebäude,
dann ein Wirtschaftsgebäude inklusive einer großen Küche und
Speisesaal. Des weiteren Ställe für Schweine und ein Fuhrpark mit
einer Garage für Autos, einige Obst- und Gemüsegärten sowie ein
Gewächshaus, dazu ein Versorgungsgebäude mit diversen Werkstätten
und einer Schmiede. Um diese Gebäude herum waren Beete und Rabatten mit
Ziersträuchern angelegt und die Gebäude selbst waren von wildem Wein
bewachsen. Vor dem Wirtschaftsgebäude gab es sogar einen Springbrunnen
inmitten einer Rasenanlage. Etwas abseits gelegen und zusätzlich eingezäunt,
lagen zwei einstöckige Doppelwohnhäuser.
Das Gelände des Arsenal-Verwaltungsgebäudes
am heutigen Ostlandplatz war die neue Heimat der siebenjährigen Hertha
Das Ganze war eine so gute Tarnung den Feinden gegenüber,
dass man von oben aus der Luft zwar ein groß angelegtes Gut erkennen konnte,
aber niemals ein Sperrwaffen-Arsenal. Außerdem waren alle Dächer
der Bunker mit grünen Tannenzweigen belegt, so dass man von oben nur eine
einzig grüne Fläche erkennen konnte. Trappenkamp ist während
des zweiten Weltkrieges nie entdeckt worden.
Im Schutze des Waldes wurden von Waffenspezialisten brisante Wasserbomben, Seeminen
und ähnliches für die Marine zusammengebaut. Vor Ort wurde jedoch
nicht produziert. Alle Teile dazu und auch der Sprengstoff mussten mit der Güterbahn
angeliefert werden. Zu diesem Zweck, für Lieferung und Abtransport, wurde
eigens ein Bahnanschluss der Kleinbahn Kiel - Segeberg, von Bornhöved aus
angelegt.
Nachdem die Engländer Anfang Mai 1945 Schleswig-Holstein besetzt hatten, wurde auch Trappenkamp übernommen. Sie begannen sofort mit der Demontage. Alles wurde so nach und nach als Kriegsbeute nach England gebracht.
Inzwischen waren zwei Jahre vergangen. Die gefährlichen Bomben und Minen waren fort. Aber es gab noch viel unbearbeitetes Material, das in den Bunkern lagerte. Gegenüber vom Verwaltungsgebäude z. B. war ein großer Stapel mit diversen Gegenständen aus Leichtmetall. Wir Kinder gingen neugierig dorthin und brachten manchmal Dinge mit nach Hause, von denen wir nicht wussten, wozu sie ehemals genutzt worden waren. Auch die Erwachsenen streiften umher und wurden fündig. Einiges konnte man für den Alltag umfunktionieren. Angefangen von kleinen runden oder eckigen Blechdosen, die mit einem Henkel versehen, zum Essgeschirr wurden. Ich hatte so eines. Wenn meine Mutter auf Suche ging, nahm sie mich meistens mit. Eines Tages holten wir gemeinsam zwei Gestelle aus Leichtmetall, die wir oben mit einer losen Holzplatte versahen. So wurde ein kleiner Tisch daraus. Wir "besorgten" oder stahlen auch Holzstämme, die in großen Mengen zum Abtransport aufgestapelt herum lagen. Zusammen schleppten wir dünne Stämme hinter unsere Baracke und zersägten sie in Stücke, die meine Mutter dann mit einem Beil in kleine Scheite zerhackte.
Die ersten Vertriebenen, die nicht in den vier vorhandenen Baracken wohnten, waren in den ehemaligen Bik-Häusern (eisenfreie Häuser für die Herstellung der Magnetzünder) und großen Arbeitshäusern untergebracht; als erstes natürlich im Verwaltungsgebäude, das im Erdgeschoss sowie in der ersten Etage über mehrere Zimmer verfügte. Nun waren sie total überfüllt. Auch der erste Arzt, Dr. Gustav Porsche, hatte einen Praxisraum in diesem Haus. Der Flur diente als Wartezimmer. Sogar der Keller wurde genutzt, indem man ein provisorisches Postamt unter Leitung von Oskar Maschke einrichtete.
Am besten hatten es die Leute, die ganz am Anfang hergekommen waren und ein Zimmer in den beiden einzigen Wohnhäusern erwischt hatten. Aber die Anzahl war begrenzt, denn in einem der beiden Häuser wohnten ehemalige Offiziere und Waffenwarte mit ihren Familien.
Das Wirtschaftsgebäude war jetzt eine Gaststätte, die ein Kieler Pächter namens Andreßen eröffnet hatte. Das darin befindliche Casino für die Marineoffiziere wurde nun zu einem Restaurant mit Sitzecken und Billardtisch umfunktioniert. Der Tresen diente als Bar. Da die Engländer das gesamte Mobiliar im Wirtschaftsgebäude nicht mitgenommen hatten, konnten die neuen Bewohner von Trappenkamp davon profitieren. Das galt auch für den ehemaligen großen Speisesaal, der mit Tischen und Stühlen bestückt war und sogar einen Parkett-Fußboden besaß auch für die Turner als Turnboden genutzt.
Nicht eben einladend und dennoch eine
sichere Zuflucht: das winterliche Trappenkamp 1947/48
Während die Demontage seitens der Engländer weiter ging, wurde im Laufe des Jahres mit dem Ausbau der Bunker begonnen. Insgesamt gab es 95 Beton-Bunker und mehrere sog. "Arbeitshäuser". Schon 1946 hatten die Besatzer mit den deutschen Behörden in Segeberg darüber verhandelt, dass das gesamte Arsenal den Flüchtlingen und Vertriebenen als neuen Wohnsitz und dem Aufbau einer "Friedensindustrie" zur Verfügung gestellt werden sollte. Denn ursprünglich wollte man die Bunker sprengen, war aber aus verschiedenen Gründen davon abgekommen. Ein Grund war auch der andauernde Flüchtlingsstrom aus dem Osten. Später kamen sogar Rumäniendeutsche mit ihren Familien, deren Männer ab 1950 als Glasbläser in der großen Glashütte arbeiteten.
Nachdem die meisten Bunker leer geräumt waren, begannen die baulichen Maßnahmen. Es wurden in den Außenwänden Löcher für Fenster und Türen ausgestemmt und Innenwände gezogen, so dass einzelne Zimmer entstanden. Manchmal waren sie noch nicht ganz fertig, wenn die Leute dort einzogen.
Da die Engländer nicht nur die militärischen Anlagen abbauten, sondern damit begannen den Wald zu fällen, kamen die grauen Bunker ans Tageslicht. Zuletzt wurden die Schienen der Schmalspurbahn herausgerissen und der Stacheldrahtzaun verschwand. Wo vorher die Gleise lagen, blieben nur Schneisen, die erst ab 1956 zu Straßen ausgebaut wurden. Es sah plötzlich alles aus wie eine trostlose Mondlandschaft und der Anblick war deprimierend. Der Wald war weg, ebenso die Schmalspurbahn mit der kleinen Lokomotive, die wir Kinder so gern mochten.
Die Schmalspurbahn des Arsenals faszinierte die
Kinder. Der Lokführer ließ sie auch manchmal mitfahren.
Freundin Evi (links) und Herthi Ostern 1949 |
Trotzdem waren die Menschen in Trappenkamp zuversichtlich und
auch froh, dass sie eine Bleibe gefunden hatten. Die Gablonzer und die anderen
Sudetendeutschen hatten nicht nur etwas Gepäck mitgebracht, sondern auch
ihre Sitten und Bräuche, die sie so nach und nach wieder aufleben ließen.
Es gab Theateraufführungen mit Laienspielern im sudetendeutschen Dialekt;
Geschichten aus dem Iser- und dem Riesengebirge. Besonders vom berühmten
"Rübezahl" wurden vorgelesen. Später gab es auch einen gemischten
Chor.
Dann kamen die vielen Tanzveranstaltungen wie der "Tanz in den Mai"
mit Wahl einer Maikönigin hinzu. Am ersten Mai wurde vor der Gaststätte
ein Maibaum aufgestellt und es wurden darum Volkstänze aufgeführt.
Die jungen Mädchen trugen Dirndl und die jungen Männer kurze Lederhosen.
Doch nicht zu vergessen sind auch die Maskenbälle, die aus der Gablonzer Heimat stammten und von denen meine Mutter so geschwärmt hatte. Hier in Trappenkamp musste man mit einfachen Verkleidungen vorlieb nehmen. Aber der Ablauf eines Maskenballes war nach dem alten Stil: Die Männer, die unmaskiert waren, gingen zuerst ins Lokal und setzten sich an einen Platz. Die Frauen verkleideten sich vorher und setzten Masken auf. Dann gingen auch sie ins Lokal. Sobald die Musik spielte, forderten die maskierten Frauen die Männer zum Tanz auf. Gegen Mitternacht kam die große Demaskierung. Als die Masken abgesetzt wurden, gab es manche Überraschung. Auch wenn meine Mutter damals bereits 45 Jahre alt war, ging sie als "Schulmädchen" verkleidet mit zwei kleinen Zöpfchen und einem Ranzen zum Ball. Am nächsten Tag erzählte sie uns Kindern, mit wem sie alles getanzt hatte.
Diese Bräuche und auch der Dialekt waren etwas total Fremdes für die Einheimischen aus den umliegenden Bauerndörfern. Doch sie kamen aus Neugier, denn es hatte sich bei ihnen herumgesprochen, dass da "auf Trappenkamp", wie sie es nannten, ziemlich eigenartige Menschen hingezogen waren.
Auch für uns Kinder und Jugendliche gab es Veranstaltungen.
Organisiert wurden sie ehrenamtlich von verschiedenen Personen. "Kaspertheater"
für die Kleinen, Sport und Spiele für die Größeren. Im
Herbst gab es ein "Kirmes"-Fest und ein "Blut- und Leberwurstessen"
mit Sauerkraut sowie in der Weihnachtszeit Krippenspiele.
Für diverse kulturelle Veranstaltungen war Dr. Gustav Porsche aus Gablonz
zuständig, den Walter Holey die "Graue Eminenz der Kultur" genannt
hat.
In den Anfangsjahren hat sich Dr. Porsche mit großem Einsatz um die Jugend
gekümmert. Ihm zu Ehren wurde sogar eine Straße benannt.
10 Jahre später dann, während meiner Jugendzeit, gab
es regelmäßig jeden
Samstag im großen Saal der Gaststätte eine Tanzveranstaltung mit
Live-Musik. Es spielten Bands oder Kapellen aus Kiel, Neumünster und sogar
aus Hamburg kam eines Tages der Künstler Peter Beil zu Gast. Im ehemaligen
Waldrestaurant stand die erste Musik-Box, wo wir nach der heißen Rock'n-Roll-Musik
von Elvis Presley, Bill Haley bis zu Peter Kraus oder Rocco Granata tanzten.
Da wir Lebensmittelkarten bekamen, konnte man einkaufen gehen, aber es gab in Trappenkamp keinen einzigen Laden, weder für Brot noch für Milch. Es gab außerdem keine Schule und auch keine Kirche. Der nächste Ort war ca. 4 Kilometer weit entfernt und hieß Bornhöved. Ein Bauerndorf, das deshalb im Lexikon erwähnt wird, weil dort im Jahre 1227 eine entscheidende Schlacht stattgefunden hatte. Adolf von Holstein besiegte dort die Dänen, worauf die Bornhöveder stolz waren und ein Denkmal aufstellten, das man heute noch besichtigen kann.
Dieses Dorf, das 1947 von Flüchtlingen aus Ostpreußen
und Pommern total überfüllt war, sollte in den kommenden Jahren eine
große Rolle spielen. Einmal, weil Trappenkamp dieser Gemeinde als Ortsteil
angegliedert wurde und somit dieser unterstand, und zum anderen, weil wegen
der kulturellen Unterschiede zwei Welten aufeinander prallten.
Doch zunächst mussten die Erwachsenen dorthin einkaufen gehen und kamen
zum ersten Mal mit Einheimischen in Kontakt. Da gab es schon die ersten Differenzen.
Es gab hier keine Semmeln, sondern die hießen "Brötchen"
und das Schwarzbrot war den Sudetendeutschen fremd. Der Fleischer wurde hier
"Schlachter" genannt und das "Gewiegte" war hier "Hack".
Im Gemüseladen fragten sie nach "Karviol", doch der hieß
hier "Blumenkohl". Überhaupt, die verschiedenen Krautsorten nannte
man hier Kohl. Weißkohl, Rotkohl, ja sogar das beliebte Sauerkraut wurde
hier zum "Sauerkohl". Dagegen war den Gablonzern "Grünkohl"
ganz unbekannt.
Dann gab es noch etwas Wichtiges. Hier im Norden wurde in Pfund abgewogen und nicht in Kilo. Auch die Bezeichnung von "Deka" war hier unbekannt. Verlangte man 10 Deka einer Wurst, runzelte der Schlachter die Stirn. Die Sudetendeutschen mussten ab nun in Gramm rechnen. 10 Deka waren also 100 Gramm, 50 Deka ein Pfund und 100 Deka ein Kilo. Auch meine Mutter, die ihre Backrezepte stets in Deka rechnete, musste sich umstellen.
Mit einem Tempo-Dreirad hatte Otto Klauke sein Geschäft in Trappenkamp angefangen |
Nach ein paar Wochen lieferte als erster ein Bäcker mit seinem Pferdewagen nach Trappenkamp, da er wohl gemerkt hatte, dass sich das Geschäft lohnt; dann kamen der Bäcker Otto Ratzow aus Bornhöved und der Schlachter Stenner, der in der alten Garage neben dem Wirtschaftsgebäude seine Produkte verkaufte. Und nicht zu vergessen Otto Klauke, der Großvater des heutigen Geschäftsführers Iven Klauke, der damals mit einem kleinen dreirädrigen Auto gefahren kam und Molkereiprodukte verkaufte.
Obwohl der Handel zwischen den Geschäftsleuten aus Bornhöved
und den Trappenkampern nun florierte, gab es jahrelang Differenzen zwischen
den beiden Ortschaften. Bornhöved, das alte Bauerndorf aus dem Mittelalter,
und Trappenkamp mit seinen Heimatvertriebenen und Flüchtlingen kamen nie
auf einen gemeinsamen Nenner. Das Misstrauen der Bauern, besonders den Gablonzern
gegenüber, war gegenwärtig. Die einen hatten kein Verständnis
für Glas- und Perlenschmuck, die anderen fanden für ihren Aufbau zu
wenig Unterstützung. Die sudetendeutschen Unternehmer hatten bereits 1946
eine Genossenschaft gegründet, die ihre Interessen im Gemeinderat vertrat.
Endlich gab das Wirtschaftsministerium in Kiel dann "Grünes Licht"
für den Aufbau. Nach fast 10 Jahren, nämlich im Jahre 1956, wurde
Trappenkamp eine selbständige Gemeinde, bekam richtige Straßen und
sogar eine Straßenbeleuchtung. Der erste ehrenamtliche Bürgermeister
wurde gewählt. Er hieß Wolfgang Beckert.
Wie ich anfangs erwähnte, gab es auch keine Schule in Trappenkamp. Daher mussten alle Kinder zu Fuß nach Bornhöved gehen. Im April 1947 wurde ich eingeschult. Es war das zweite Mal, da ich bereits im September des vergangenen Jahres in Quedlinburg eingeschult worden war. Doch ich hatte nur drei Monate die Schule besuchen können, da sie geschlossen wurde, weil keine Kohle für die Heizung vorhanden war.
Nun begann der "Ernst des Lebens" wie man im Volksmund sagt. Denn ab jetzt musste ich jeden Tag vier Kilometer zur Schule hin und wieder vier Kilometer zurück zu Fuß laufen. Da der Schulunterricht überwiegend um 8:00 Uhr morgens begann, bedeutete das für uns Kinder, dass wir ab ca. ¼ vor 7:00 Uhr gemeinsam abmarschierten. Jeden Morgen musste ich nun um 6:00 Uhr aufstehen. Meine Mutter hatte am Abend zuvor einen Haferflockenbrei gekocht, der morgens aufgewärmt und gegessen wurde.
Es gab drei unterschiedliche Wege, die nach Bornhöved führten:
1. Durch einen kleinen Wald, der in Privatbesitz war, was aber niemand störte.
2. Durch den "Katenlandsweg", der von den Bauern genutzt wurde, da
er zu ihren Feldern führte.
3. Die Landstraße, die später in den 1950er Jahren zur B 404 ausgebaut
wurde.
Der kürzeste Weg war durch den Wald. Wir kleinen Kinder hatten Angst, allein durch den Wald zu gehen. Daher ging jeden Morgen ein Erwachsener als Begleiter mit. Den Rückweg traten wir meistens durch den "Katenlandsweg" an. Es war unser "Bummelweg", der manchmal bis zu zwei oder drei Stunden dauern konnte. Im Sommer sammelten wir Himbeeren und Brombeeren, die wir sofort in den Mund steckten. Wir gingen in die Kornfelder auf der Suche nach Erbsen, die dort vereinzelt zu finden waren. Im Herbst waren es die Steckrüben, die es uns angetan hatten. Wir zerschlugen sie auf einem großen Stein, denn ein Taschenmesser besaßen wir nicht. Sie schmeckten uns roh besser als jedes Steckrübengericht.
Das Oktoberfest "Kirmst" erforderte
Verkleidung (1950)
Eines Tages schrien uns die Bornhöveder Kinder hinterher: "Trappenkamper Kosaken hev Lüüs in Nacken". Wir verstanden zunächst nicht, was sie damit meinten. Als wir es herausbekommen hatten, erwiderten wir mit dem Gegenschlag: "Bornhöv'der Kosaken hev Lüüs in Nacken". Wir wussten nun, dass Lüüs auf Hochdeutsch Läuse waren. Das konnten wir natürlich nicht auf uns sitzen lassen.
Diese erste harte Schulzeit dauerte drei Jahre! 1950 wurde nach einem großen Protest seitens der Eltern, in Trappenkamp ein Klassenraum in einem ausgebauten Bunker eingerichtet. Lehrer Bruno Hanisch unterrichtete in zwei Schichten, denn inzwischen waren wir auf 60 Schulkinder angewachsen. Ab 1951 kam Lehrer Hermann Wohlenberg dazu.
Nach der 6.Klasse besuchte ich die Mittelschule in Bornhöved, damals "Aufbauzug" genannt. Da fuhr ich mit dem Fahrrad diese Strecke und das war schön. Danach absolvierte ich eine kaufmännische Ausbildung in der Glasfabrik Ernst Friedrich in Trappenkamp.
Erste heilige Kommunion 1949 in weißer Kleidung, die die Kirche spendete |
Zum Schluss möchte ich über die Katholische Kirche berichten, die hier gleich neben dem Bürgerhaus steht. Damals ab 1947 gab es kein festes Gebäude, dafür aber einen Pfarrer, und zwar Pfarrer Josef Wronna, der selbst ein Flüchtling aus Ostpreußen war und in Wankendorf lebte. Er war eifrig mit seinem Motorrad unterwegs und besuchte die Leute zu Hause in Bornhöved, Wankendorf und Trappenkamp. Hier fand er die meisten Katholiken. Auch ihm wurde anfangs ein Bunker zur Verfügung gestellt, der zu einer kleinen Kirche ausgebaut wurde, in dem die Gottesdienste stattfanden.
Er war unermüdlich in seiner karitativen Seelsorge und verteilte u. a. auch Lebensmittel- und Kleiderspenden. Zum Beispiel bekamen wir von ihm zu unserer Erstkommunion weiße Kleider, Schuhe und Strümpfe geschenkt. Er organisierte als Erster ein Zeltlager am Schierensee und später in Pelzerhaken an der Ostsee. Dann gab es Ferienaufenthalte bei Bauern in der Osnabrücker Gegend. Meine jüngeren Schwestern Maja und Isolde kamen sogar durch ihn jeweils für ein halbes Jahr zu einer Familie nach Belgien. Er konnte dieses alles für seine Kirchengemeinde tun, weil wir als "Diaspora" in Schleswig-Holstein zum Bistum Osnabrück gehörten und von diesem unterstützt wurden. Auf jeden Fall gebührt Pfarrer Wronna großer Dank für seine Arbeit.
Vor ein paar Monaten las ich in der Sudetendeutschen Zeitung einen interessanten Artikel über einen katholischen Pater aus Belgien. Er wurde der "Speck-Pater" genannt, weil er sich dafür eingesetzt hatte, dass belgischen Familien deutsche katholische Flüchtlingskinder für ein halbes Jahr zu sich aufnahmen. Sein Name: Pater Werenfried van Straaten aus den Niederlanden.
14 Jahre habe ich in Trappenkamp gelebt. Ich habe anfangs die Demontage seitens der Engländer gesehen und anschließend den Neuanfang der Sudetendeutschen miterlebt. Meine Kindheit im Rückblick gesehen war trotz der ärmlichen Umstände eine gute Zeit. Wir konnten draußen in der freien Natur herumtollen, ja sogar auf Bäume klettern, und waren in eine Gemeinschaft fest eingebunden.
Ich lebe jetzt seit über 50 Jahren in Hamburg. Nach einem erfolgreichen Berufsleben in der Musikbranche, sprich Deutsche Grammophon/Polydor, bin ich nach meiner Pensionierung zur Sudetendeutschen Landsmannschaft in Hamburg gestoßen und Mitglied geworden. So schließt sich der Kreis, dass ich heute vor Ihnen stehen und über diese Zeit in Trappenkamp berichten kann.
Die Autorin Hertha J. Kiesewetter |